Adele
Gerdes
Die
Selbstorganisation dynamischer Systeme. Whiteheads Beitrag zur
Philosophie des Geistes
»Das
höchste Kriterium bleibt immer
weitgefächerte, wiederkehrende Erfahrung ...«
»Nichts
darf ausgelassen werden, alles muß zu seinem Recht kommen:
das trunkene und das
nüchterne Erleben, das Erleben im Schlaf und im Wachen, im
Dämmerzustand und
bei hellem Bewußtsein, im Zustand der Selbstbefangenheit und
im Zustand der
Selbstvergessenheit, intellektuelles und physisches,
religiöses und
skeptisches, ängstliches und sorgloses, vorausschauendes und
zurückblickendes,
glückliches und trauerndes, von Emotionen fortgerissenes und
mit vollkommener
Selbstbeherrschung ertragenes Erleben, das Erleben im Hellen ebenso wie
im
Dunklen, das normale ebenso wie das abnorme.«
»In Wirklichkeit
ist der lebende Körper als Ganzes
das lebendige Organ unserer Erfahrung.«
Whitehead, Prozeß und Realität (56), Abenteuer der
Ideen (401, 400)
EINLEITUNG
Wenn
im
Jahr 1999 eine Einschätzung zum Ergebnis kommt,
»daß
das systemtheoretische Paradigma eine außerordentliche
historische Überlebensfähigkeit,
Flexibilität und
modelltheoretische Ausformulierung bewiesen hat, ohne
Erschöpfungszustände zu zeigen«,1 ist das
aus heutiger
Sicht Understatement. Systemtheoretisches Denken hat
Konjunktur.
Und besonders prominent ist die Verknüpfung von
Selbstorganisations und systemtheoretischen Sichtweisen:
»Die
Theorie der Selbstorganisation gewinnt an theoretischer
Tiefenschärfe, wenn man sie mit der Systemtheorie in
Verbindung
bringt.«2 Resultat dieser Verbindung sind Theorien
dynamischer
Systeme; durch sie erfuhr das systemtheoretische Paradigma in den
letzten zehn bis fünfzehn Jahren grundlegende Erneuerung und
Verbreitung – und das ganz besonders dort, wo sich die
Suchscheinwerfer auf den Menschen richten: wenn es darum geht, unsere
Erfahrung, unser Denken und Fühlen, unser Selbst-Sein und
In-der-Welt-Sein wissenschaftlich in den Blick zu bekommen.3
Konkret schlägt sich diese Entwicklung
beispielsweise
nieder in einer generellen, transdisziplinären,
vielgestaltigen
Forschungsausrichtung unter dem Obertitel
›Embodiment‹.
Allgemein gesagt, geht es dabei um: »the deep contuinity of
life
and mind«.4 Als eine Grundannahme lässt sich
formulieren:
Unsere Erfahrung, unser Denken und Fühlen, ist nur begreifbar
als
ein Element des Natürlichen, als ein natürliches
Phänomen, unablösbar gebunden an Leben, an
Körperlichkeit beziehungsweise Leiblichkeit. Wenn der Begriff
›Embodiment‹ ins Deutsche übersetzt
wird, dann mit
›Verkörperung‹ oder auch mit
›Verleiblichung‹.
»Körper
(body) ist hier ein weitgefaßter Terminus, der
nicht nur die rein ›materiellen‹ Grundlagen des
Geistes
(v.a. das Gehirn), sondern auch anthropologische Dimensionen
(historische, soziale, kulturelle, emotionale, linguistische etc.)
umfaßt. Conditio corporea ist hier conditio humana. Die
Unterscheidung zwischen Körper vs. Leib im Deutschen erlaubt
es,
den zweiten Ausdruck zur Bezeichnung dieser ganzheitlichen Auffassung
des menschlichen Wesens zu reservieren.«5
In Forschung und Theoriebildung sind
selbstorganisational-systemtheoretische Sichtweisen deshalb so stark im
Kommen, weil sie ganz entscheidend helfen beim Beschreiben, Analysieren
und Deuten, beim Begreifen dieser Bindung von Erfahrung an Leben.
»Where
there is life there is mind, and mind in its most
articulated forms belongs to life. Life and mind share a core set of
formal or organizational properties, and the formal or organizational
properties distinctive of mind are an enriched version of the
self-organizing features of life. [...]
From this perspective, mental life is also bodily life and is situated
in the world.«6
Zu dieser generellen wissenschaftlichen Ausrichtung tragen Fortschritte
in ganz unterschiedlichen Bereichen bei; der sogenannte
›embodiment turn‹ ist Bestandteil einer Art
globaler
Entwicklung, deren einzelne Facetten auf bestimmten Forschungsfeldern
auch subsumiert werden unter die Überschrift
›konstruktivistische Wende‹, auf anderen unter
die
Überschrift ›phänomenologische
Wende‹ oder
›semiotische Wende‹ oder ›dynamical
turn‹.
Wichtige Akteure sind unter anderem die Entwicklungspsychologie und die
Wahrnehmungspsychologie, die kognitive Linguistik und Semiotik, die
Neurobiologie und die Informatik.
Anschaulich wird dieser globale Wandel, der Sache nach,
beispielsweise auf der Ebene der forschungsleitenden Analogien,
Metaphern, Bilder. Eine wesentliche Neuorientierung auf dieser Ebene
ist etwa plakativ formulierbar als: ›Das Gehirn ist kein
Computer.‹ Das wurde über Jahrzehnte anders
gesehen:
»Das
inzwischen klassische Beispiel für ein
informationsverarbeitendes System ist der Computer. Der Computer mit
seinen enormen Fähigkeiten der Speicherung und Verarbeitung
von
Informationen erschien vielen sogar auch für die menschliche
Informationsverarbeitung paradigmatisch, so daß er nicht nur
als
Arbeitsinstrument, sondern vor allem als konzeptuelle Grundlage der
Kognitiven Wissenschaft galt. Eine derartige Sichtweise wird als
Computermetapher bezeichnet. Immer deutlicher wird heute jedoch
gesehen, daß der Computer kein forschungsleitendes Modell der
menschlichen Informationsverarbeitung sein kann [...].«7
Ein bezeichnender Aspekt des wissenschaftlichen Wandels hin zum
Selbstorganisations- und ›Embodiment‹-Paradigma
ist die
Wende von technikaffinen forschungsleitenden Bildern, Analogien und
Metaphern zu solchen, die das Natürliche an der Sache in den
Blick
zu nehmen suchen. Geht es beispielsweise um den Gegenstandsbereich
Gedächtnis, scheint es in einigen grundsätzlichen
Hinsichten
adäquater, nicht etwa Informationstechnologisches wie den
Computer, den Datenspeicher oder die Festplatte zwecks
Veranschaulichung heranzuziehen, sondern die »biologischen
Metaphern«.
»[...]
dass das Gedächtnis in unserem Kopf Produkt eines
außergewöhnlich komplexen natürlichen
Vorgangs ist.
Dieser ist in jedem Augenblick auf das individuelle Lebensumfeld und
das einzigartige Erfahrungsmuster des einzelnen Menschen perfekt
abgestimmt. Die alten biologischen Metaphern für das
Gedächtnis mit ihrer Betonung auf ein kontinuierliches,
unbestimmtes, organisches Wachstum sind, so zeigt es sich,
bemerkenswert zutreffend. [...]
Diejenigen, die das ›Outsourcing‹ von
Gedächtnisleistungen ins Internet bejubeln, haben sich von
einer
Metapher in die Irre führen lassen. Sie übersehen die
grundlegend organische Natur des biologischen Gedächtnisses.
Was
dem echten Gedächtnis seinen Reichtum und seinen Charakter
verleiht, ganz zu schweigen von seinen Geheimnissen und seiner
Empfindlichkeit, ist seine Kontingenz. Es existiert in einem zeitlichen
Kontext und verändert sich mit dem
Körper.«8
Wie steht es um den Beitrag der Philosophie – um das
philosophische Nachdenken über die Bindung von Erfahrung an
Leben?
Darum geht es dieser Studie; dem gilt ihr Erkenntnisinteresse. Als
konkreten Zugang – als Einfallstor für die
philosophische
Reflexion – wählt sie die Konzeption A.N.
Whiteheads. Diese
gilt als eines »der am konsequentesten durchgearbeiteten
Systeme«,9 was die philosophische Beschäftigung mit
dem
Thema ›mind and life‹ angeht, und sie ist ein
Theorieangebot, das jede Spielweise der Erfahrung durchdenkt im
Hinblick darauf, und das unter Gesichtspunkten, die fassbar sind mit
Leitbegriffen wie ›Selbstorganisation‹,
›dynamische Systeme‹,
›Embodiment‹.
Zurzeit ist dieser Zugang noch relativ ungenutzt. Auch wenn
Whiteheads Aktien momentan durchgängig stark steigen;
überwiegend spielt sich die Rezeption seines philosophischen
Theorieangebots noch ab in einer vergleichsweise geschlossenen
Teilöffentlichkeit. Es gilt, grosso modo, als
›eindrucksvoll, aber hermetisch‹.10
Hier setzt diese Studie an: Als ihre Aufgabe begreift sie,
dieses Theorieangebot zugänglich zu machen – als
Möglichkeit der philosophischen Reflexion dessen, was wir
heute
über unsere Erfahrung, unser Denken und Fühlen, unser
Selbst-Sein und In-der-Welt-Sein wissen.11
Anzusprechen ist dazu der Punkt Aktualität und,
möglichenfalls damit zusammenhängend, der Punkt
Rezeptionsauffälligkeiten. Whiteheads Theorieangebot traf
direkt
mit seinem Erscheinen auf ein eigentümliches Rezeptionsvakuum,
das
der Philosoph Reiner Wiehl einmal mit dem Begriff
›Mumifizierung‹ bezeichnet hat.12 Einiges ist zu
diesen
Rezeptionsauffälligkeiten mittlerweile gesagt;13 und diese
Studie
wird immer wieder auch Rezeptionsaspekte ansprechen. Und sie wird
möglicherweise etwas sichtbar machen, was so
rezeptionstheoretisch
noch kaum thematisiert ist, denn es zeichnet sich besonders dann
deutlich ab, wenn man das philosophische Theorieangebot – wie
es
diese Studie für bestimmte Fragestellungen durchspielt
–
systematisch im interdisziplinären Kontext reflektiert. Im
Grundsatz geht es hier um die These von der Vorzeitigkeit Whiteheads:
Aus dieser Sicht läuft dieses philosophische Unternehmen in
entscheidenden – rezeptionsrelevanten – Aspekten
quer zum
geistes- und erfahrungswissenschaftlichen Mainstream der 1930er bis
1980er Jahre – womit, so die Überlegung,
möglicherweise
seine ›Mumifizierung‹ zusammenhängt. Es
konvergiert
demgegenüber mit weitreichenden und tiefgreifenden
jüngeren
und aktuellen Wissenschaftsentwicklungen: mit einem
breitgefächerten, transdisziplinären, in gewisser
Hinsicht
globalen Wandel, der eben beispielsweise mit Schlagworten wie
›Selbstorganisation‹ und
›Embodiment‹
überschreibbar ist und dessen einzelne Facetten wir heute
unter
anderem kennen als konstruktivistische, als phänomenologische
oder
als semiotische Wende – ein Wandel, der unter anderem mit
einer
Vielzahl an ›Wiederentdeckungen‹ bezeichnender
Selbstorganisationsansätze, wie beispielsweise der
Gestaltpsychologie, einhergeht. Whiteheads Theorieangebot
lässt
sich vom heutigen Kenntnisstand aus deuten als eines, das diesen
globalen Wandel für die Philosophie vollzieht.14
Einen aus heutiger Sicht exemplarischen Befund hinsichtlich
des
Zusammenhangs von Erfahrung und Leben hat die Gestaltpsychologie einmal
treffend so formuliert: »Every act, every experience leaves a
trace«15 – jeder Moment, jede Erfahrung, schon die
bloße Imagination hinterlässt,
grundsätzlich
betrachtet, Spuren, kann beispielsweise in wiederum erfahrungsrelevante
Veränderungen resultieren. Es sind Befunde wie dieser,
die
Whiteheads Theorieangebot konsequent systematisch durchdenkt.
In methodologischer Hinsicht bezeichnend ist für
diese
Studie der Begriff der Rekonstruktion – der ganz allgemein
eine
»gegenüber den Begriffen der Interpretation und des
Verstehens ausgezeichnete Methode des Begreifens« meint:16
das
gedankliche Nachbilden eines komplexen Zusammenhangs unter
systematischem Gesichtspunkt. Dieses gedankliche Nachbilden zielt
erstens auf interdisziplinär-wissenschaftliche Entwicklungen
und
Kenntnisstände; insofern ist diese Studie
Wissenschaftsgeschichte
und Wissenschaftstheorie.17 Zweitens wird die Philosophie in den Blick
genommen, Whiteheads Theorieangebot rekonstruiert, genau gesagt:
teilrekonstruiert.
Nahezu jeder Versuch der Darstellung betont es:
»Der
Reichtum an Problemen, die Whitehead behandelt, ist
ungeheuer«;18
es ist ein Reichtum beispielsweise auf den Gebieten der
Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie,
Erkenntnistheorie, Wahrnehmungstheorie, Anthropologie. Der Ehrgeiz der
hier vorlegten Studie beschränkt sich insofern auf das
Beleuchten
spezifischer, in gewissen Hinsichten exemplarischer Aspekte; die
Betonung liegt auf exemplarisch. Um das Anliegen, was die
Rekonstruktion des Whitehead’schen Gedankengebäudes
angeht,
in ein Bild zu fassen: Es ist ein Großgebäude von
außerordentlichen Aus- und Innenmaßen, und diese
Studie
beschränkt sich darauf, eine für einen ersten Zugang
und
bestimmte Fragestellungen brauchbare Orientierungsskizze zu liefern:
Betrachterstandpunkt, Grundriss, Infrastruktur, Hauptareale und
Zugangsoptionen, ›points of attraction‹, und
immer
wieder, aus verschiedenen Aufsichten: ›points of
orientation‹.
Übersicht
Aufgebaut ist die Studie als argumentativer Dreischritt: Teil I gilt
der Klärung der Fragestellungen, etwa aus
wissenschaftshistorischer und wissenschaftsphilosophischer Sicht, Teil
II der Rekonstruktion der Philosophie, Teil III, ergänzend,
möglicherweise weiter plausibilisierenden
Praxisbezügen.
Teil I
Am Anfang steht die forschungslandschaftliche Orientierung: Was genau
meint die Rede von einer ›Theorie der Erfahrung‹,
von
›Theorien des Geistes‹, vom
›Erklären des
Mentalen‹? Was meint der Theoriebegriff, was der Begriff des
›Geistigen‹ oder
›Mentalen‹? Und wie
verhält es sich mit dem notorisch vieldeutigen Begriff
›Bewusstsein‹? Das sind die Eingangsfragen
(Kapitel 1).
Im Ergebnis kommt diese Sichtung zum Befund – der als
Richtschnur
für den weiteren Gang der Untersuchung dient –,
wonach
inhaltliche Schwerpunkte einer Theorie des Geistes oder auch, anders
formuliert, einer Theorie der Erfahrung sind: 1) der Bereich des
Kognitiven, der epistemische, Wissens- oder auch
›Welt‹-Gehalt des Mentalen, 2) der Bereich des
Erlebens,
die Subjektivität – der
›Selbst‹-Gehalt des
Mentalen. Das sind zwei wesentliche Gemarkungen. Vereinfacht,
zugespitzt, als Fragen formuliert:
— ›Wie kommt die Welt in den Kopf?‹
— ›Wie kommt das Selbst, die
Subjektivität, in die Welt?‹
Wie steht es unter diesen Vorzeichen um disziplinäre
Aufstellungen
und speziell um den Beitrag der Philosophie? (Kapitel 2) Dazu stehen
weitere begriffliche Orientierungen und Klärungen an
–
insbesondere zunächst einmal hinsichtlich des
Naturalismusbegriffs. Grundsätzlich meint
›Naturalismus‹ auf philosophischem Terrain, den
»Geist als natürliches
Phänomen«19 zu begreifen.
Nimmt man es genauer, ist begriffspolitisch relevant die Unterscheidung
zwischen Positionen, die die Erklärung des Mentalen als
exklusiv
naturwissenschaftliches Unternehmen begreifen – weshalb sich
dann
der Blick nicht selten prompt auf die Neurowissenschaften richtet
–, und Positionen des Naturalismus im weiten, trans- und
interdisziplinären Sinn. Auch dieser Naturalismus betrachtet
das
Geistige als natürliches Phänomen, was aber nicht
notwendig
nach sich zieht, dass ausschließlich die Naturwissenschaften
gefragt seien – im Gegenteil: Was Entwicklungspsychologie
oder
Wahrnehmungspsychologie, kognitive Linguistik oder kognitive Semiotik
herausfinden, gilt aus dieser Sicht als wesentlich, und das Geistige
als natürliches Phänomen zu begreifen, als ein
Projekt, bei
dem alle, Natur- und Geisteswissenschaften, in einem Boot sitzen
– und bei dem, was den Beitrag der Philosophie angeht, im
Großen und Ganzen die gesamte Breite philosophischer
Unternehmungen gefragt ist: Analyse, Kritik, Konstruktion.
An diesem Punkt wird die methodologische Frage interessant:
Lässt sich zurzeit auf ganz genereller Ebene, wenn es um
Theorien
und Modelle des Geistes geht, pragmatischer Methodenpluralismus oder
auch liberalismus feststellen – »Die Wahl einer
bevorzugten Betrachtungsweise kann nur strategisch
erfolgen«20
–, gibt es bei den konkreten Ausformungen zur
Theoriekonstruktion
erkennbar Präferenzen. Zunehmend prominent ist, was als
Klassiker
konstruktiv-integrativer Instrumentarien gilt: systemtheoretische
Zugänge. Ihre wesentlichen Charakteristika im Hinblick auf das
Leitmotiv Selbstorganisation werden hier kursorisch zusammengestellt;
damit ist die forschungslandschaftliche Orientierung in dieser Form
vorerst am Ziel.
Der Stand der Dinge wird nun aus aus
wissenschaftshistorischer
Perspektive beleuchtet, indem eine Etappe der Wissenschaftsgeschichte
als Begriffsgeschichte nachgezeichnet wird. (Kapitel 3) Herangezogen
wird ein begrifflicher Musterfall: der kognitionswissenschaftliche
Repräsentationsbegriff. Es geht also nicht um den
neuzeitlichen
Repräsentationsbegriff schlechthin, sondern um eine bestimmte
Spielweise, an der sich entscheidende Wissenschaftsdynamiken
–
hin zum ›Selbstorganisations‹ oder
›Embodimentparadigma‹ – exemplarisch
nachzeichnen
lassen.
Teil II
gilt Whiteheads Theorieangebot. Einführend geht es um die
generelle Verortung seiner Philosophie, unter Aspekten wie:
Philosophiebegriff, Themen- und Zielhorizont, methodische Ausrichtung.
(Kapitel 4) Angesprochen wird insbesondere, inwieweit diese Philosophie
sucht, eine allgemeine Fassung einer Selbstorganisationstheorie, eine
universelle Theorie der Erfahrung zu entwickeln, und diese auf den
anthropologischen Prüfstand zu schicken, wo sie sich als
Theorie
menschlicher Erfahrung zu bewähren hat. Angesprochen wird
weiter,
inwiefern dieses philosophische Programm Analyse, Kritik und
Konstruktion umfasst – von einem ›pragmatischen
Standpunkt‹; und wenn es um die konkrete Ausbildung zur
Theoriekonstruktion geht, ist die systemtheoretische Zugangsweise
Thema.
Um dann die Theoriekonstruktion selbst systematisch
zugänglich zu machen, werden auf einer allgemeinen Ebene
zunächst drei Säulen unterschieden: die ontologische,
die
wahrnehmungstheoretische und die epistemologische Säule. Daran
orientiert sich die Rekonstruktion: Es geht zunächst um die
Wirklichkeitstheorie, dann um die Wahrnehmungstheorie, dann um die
Epistemologie – die Frage nach dem
›Welt‹-Gehalt
des Mentalen. Und schließlich mündet die
Rekonstruktion in
Überlegungen dazu, wie es sich aus Sicht dieser Philosophie
mit
dem Problem der Subjektivität, des
›Selbst‹-Gehalts
des Mentalen verhält.
Der Einstieg in die Rekonstruktion der Ontologie erfolgt
begriffsgeschichtlich: mittels eines Rückblick auf den
weichenstellenden Begriff schlechthin, den Substanzbegriff. (Kapitel 5)
Denn an diesem Punkt setzt das Projekt Whiteheads als kritisches an,
und das Interessante an dieser Kritik ist, wie sie auch heute noch
virulente begriffliche Probleme ausleuchtet, wenn sie aus
unterschiedlichen Perspektiven sehr deutlich macht, inwieweit im
Substanzbegriff gravierende Schwierigkeiten einer naturalistischen
Theorie der Erfahrung gründen können – und
zwar auch
dann, wenn ›Substantialismus‹ und
›Essentialismus‹ explizit als längst
überwunden
gelten.
Die Rekonstruktion der Ontologie (Kapitel 6) beginnt, der
Orientierung halber, mit einem Blick auf deren Grundgerüst und
speziell die wesentliche Unterscheidung, die man als eine von von
Mikro- und Makroebene oder von Elementarebene und Ebene zweiter Ordnung
auffassen kann. Es wird dann im ersten großen
Rekonstruktionsschritt das Gegenstandsmodell für die
Elementarebene rekonstruiert: das Elementarereignis oder der
Elementarprozess. Nachbilden, veranschaulichen und plausibilisieren
lässt sich dieses Gegenstandsmodell unter einer Vielzahl
wirklichkeitstheorischer Gesichtspunkte, über klassische
systemtheoretische und einflussreiche informationstheoretische
Begrifflichkeiten – was schließlich deutlich macht,
inwiefern es hier um etwas geht, das als prototypischer
selbstorganisationaler ›Grundbaustein der
Wirklichkeit‹
begreifbar ist.
Gegenstandsmodell auf Makroebene –
Gegenstandsmodell
für die ›Welt, wie wir sie kennen‹
–, ist das
Modell des Nexus, des Netzwerks, Wenn dieses Gegenstandsmodell nun im
zweiten großen Rekonstruktionsschritt gedanklich nachgebildet
wird, geschieht das erstens mit besonderem Augenmerk darauf, ob und
inwiefern der Netzbegriff als generelles Rahmenkonzept für
Wirklichkeitsbeschreibung, analyse und deutung begreifbar ist. Was
unterscheidet beispielsweise Netzbegriff und Systembegriff, ist eine
der Fragen, die hier angesprochen werden. Zweitens wird, etwa unter
einem Stichwort wie dynamische Stabilität, untersucht, was
genau
die allgemeine philosophische Wirklichkeitskonzeption zu einer Theorie
dynamischer Systeme macht.
Whiteheads philosophisches Projekt ist nicht nur Ontologie,
sondern in entscheidendem Ausmaß außerdem auch
Wahrnehmungstheorie. (Kapitel 7) Insbesondere gravierende Probleme der
Naturalisierung des Mentalen sind wahrnehmungstheoretischen
Vereinfachungen und Verkürzungen verdankt, macht Whiteheads
Kritik
aus immer wieder neuen Blickwinkeln und im Gespräch mit
Philosophen wie Hume und Kant deutlich: um das Geistige als
natürlich, die menschliche Erfahrung als Element der Natur zu
begreifen, braucht es einen anderen Wahrnehmungsbegriff als den des
philosophisch-erkenntnistheoretischen Mainstreams. Was diese Kritik
einfordert, ist heute zumindest auf wahrnehmungsphysiologischem Terrain
Stand der Dinge: ein signifikant erweiterter und differenzierter
Wahrnehmungsbegriff.
Whiteheads konstruktiver Beitrag ist die allgemeine
philosophische Fassung eines solchen erweiterten und differenzierten
Wahrnehmungsbegriffs. Angelegt ist diese Konzeption so, dass drei
Wahrnehmungsmodi unterschieden werden; rekonstruiert wird auf dieser
Etappe jeder der Modi, und zwar mit besonderem Augenmerk auf den
Bezügen zur Wahrnehmungspsychologie und physiologie. Im
Grundsatz
vollzieht diese philosophische Wahrnehmungskonzeption systematisch eine
aus heutiger Sicht angebrachte Wende, zu der als wesentlich das
leibphänomenologische, das ökologische und das
konstruktivistische Grundmoment zählen. Das so greifbar und
plausibel zu machen, dass der Wahrnehmungsbegriff in seiner ganzen
Tragweite für eine – ebenso humanistische wie
naturalistische – Theorie der Erfahrung sichtbar wird,
betrachtet
diese Rekonstruktionsetappe als Aufgabe.
Als Schlüsselbegriff einer naturalistischen
Epistemologie
(Kapitel 7) entwickelt Whitehead, aus dem Wahrnehmungsbegriff heraus,
den Symbolbegriff. Grundsätzlich hat man es beim Symbolbegriff
zu
tun mit einem der vieldeutigsten und theoriegenerativsten
geisteswissenschaftlichen Begriffe überhaupt –
Cassirers
Befund von 1927 gilt heute noch um einiges mehr:
»In der Tat gibt es wohl keinen anderen Begriff
[…], der
sich so reich, so fruchtbar und so vielgestaltig wie dieser erwiesen
hat – aber auch kaum einen zweiten, der sich so schwer in die
Grenzen einer ersten definitorischen Bestimmung einschließen
und
sich in seinem Gebrauch und seiner Bedeutung eindeutig festlegen
läßt.«21
Vor allem auch mit Blick auf aktuelle kognitions und
kulturwissenschaftliche Debatten wird deshalb Whiteheads allgemeine
philosophische Symbolkonzeption in ihrem Verhältnis zu
erkenntnis-
und zeichentheoretischen Traditionslinien und aus diesen
hervorgegangenen Symbolbegriffen verortet. Auf dieser Basis wird dann
entlang exemplarischer Aspekte der Frage nachgegangen, wodurch und wie
diese generelle philosophische Konzeption systematisch – und
systematisch anschließbar – vollzieht, was
beispielsweise
wissenschaftstheoretisch als kognitiv-semiotische Wende und als
›embodiment turn‹ fassbar ist.
Wie steht es mit der Frage nach dem
›Selbst‹-Gehalt des Mentalen – nach der
Subjektivität? (Kapitel 8) Whitehead selbst behandelt diese
Frage
mit einer gewissen Lässigkeit: Er formuliert weder ein
explizites
›Problembild der Subjektivität‹ noch
eine explizite
Subjektivitätstheorie. Aus seiner Sicht stellt sich ein
philosophisches ›Rätsel der
Subjektivität‹ in
erster Linie infolge Verknüpfungen wirklichkeits und
wahrnehmungstheoretischer Weichenstellungen: Problematisch sind
zunächst einmal Denk- und Argumentationsfiguren im Gefolge des
Substanzbegriffs, und die Probleme verschärfen sich dann, wenn
verkürzte Wahrnehmungskonzeptionen hinzukommen; das resultiert
– so Whiteheads kritische Diagnose – einerseits in
rationalistisch-idealistische, andererseits in
empiristisch-behavioristische Verengungen: pointiert gesagt, in
Konzeptionen ›leibloser Subjekte oder subjektloser
Körper‹. Wobei eine verkürzte
Wahrnehmungstheorie auch
dann eine Hürde sein kann kann, wenn man sich aus den
›substanztheoretischen Fesseln‹ befreit hat; das
Kant’sche Programm beispielsweise ist ein solcher Fall,
konzediert – nicht nur – Whitehead.
Entsprechend dieser Diagnose gestalten sich die
Suchräume
für Lösungen. Konkret liegen Optionen, wird auf
dieser Etappe
skizziert, in einer Naturalisierungsstrategie, die vorrangig
selbstorganisationale Ontologie und – insbesondere
leibphänomenologisch erweiterte –
Wahrnehmungstheorie
verschränkt: Whiteheads diesbezügliche
Überlegungen
laufen im Grundsatz hinaus eine Konzeption, die prominent
beispielsweise unter dem Titel Autopoiesis anzutreffen ist.
Nachgezeichnet werden diese Überlegungen hier insbesondere
auch
mit Blick auf Whiteheads ›virtuellen Widerpart‹
Kant.
Teil III
diskutiert schließlich exemplarische wissenschaftliche
Bestände unter der Headline ›Embodiment‹
und daran
Anschließbarkeiten von Wissenschaft und Philosophie;
vordringliches Interesse ist, die auf allgemeine Grundzüge
angelegte Philosophie konkret greifbar zu machen. Der Sache nach
befasst sich diese Kontextualisierung mit beiden Schwerpunkten:
1) mit der Frage nach dem Epistemischen, dem Wissen, dem
›Welt‹-Gehalt des Mentalen, Stichwort:
›embodied
cognition‹; 2) mit der Frage nach dem Subjektiven, dem
Erleben,
dem ›Selbst‹-Gehalt des Mentalen, Stichwort:
›embodied self‹. Dabei geht der Blick sowohl auf
die
›paradigmatischen‹ Ebenen als auch auf Details:
einzelne
Theorien, Begrifflichkeiten, Hypothesen, Hypothesenkonvergenzen.
Zusammengefasst
Was kann man sich von dieser Studie versprechen? Sie zeigt eine
Spannbreite von Forschungs- und Theorieperspektiven, die wesentlich
dazu beitragen, die Kontinuität von ›mind and
life‹,
von menschlichem Erleben und Naturvorgängen – anders
gesagt:
die Bindung von Erfahrung an Leben – zu begreifen.
Über
diese Zugänge informiert diese Studie: a)
wissenschaftshistorisch
und begriffsgeschichtlich – wobei manches nur skizziert wird
und
manche Skizze flüchtig ausfällt, mancher Bezug nur
kursorisch
hergestellt wird –, und b) mit besonderem Interesse
für die
Möglichkeiten der Philosophie.
_____
1 Krohn et al. 1999, 1586.
2 Küppers 1999, 1450.
3 Den Begriff ›Paradigma‹ verwendet diese Studie
im
zweifachen Kuhn’schen Sinn: a) im engeren Sinn für
allgemein
anerkannte wissenschaftliche Bestände mit Modellcharakter
hinsichtlich Problemstellungen und Lösungsvermutungen; b)
weiter
für den umfassenden diskursrelevanten Fundus an
Überzeugungen, Sprach-, Symbolbeständen etc.; siehe
dazu
Hoyningen-Huene 1999, 989.
4 Thompson 2007, IX.
5 Unternbäumen 2001. 74, Fn. 48. Zu den Termini
›Leib‹ und
›Körper‹ siehe Platz 2006,
10: »Im Deutschen ist es möglich, zwischen
Körper und
Leib zu unterscheiden. Der Begriff
›Körper‹ hat
seine Wurzeln im lateinischen Wort corpus und wurde
ursprünglich
vor allem für den Leichnam benutzt [...]. Er bezeichnet den
objektivierten Körper, der auch für Tiere und
Lebloses
verwendet wird. Mit dem menschlichen Körper ist meist
ausschließlich der materielle, biologische Körper
gemeint.
Im modernen westlichen Sprachgebrauch hat der Mensch einen
Körper
[...]. ›Leib‹ dagegen hat dieselbe Sprachwurzel
wie
›Leben‹ und meinte ursprünglich Person
oder Selbst
[...]. Der Leib definiert sich dadurch, dass er die Welt erlebt
(›erleibt‹). Er wird als Wahrnehmungs- und
Handlungspotential erfahren. Der Mensch ist ein Leib. Im Leib sind
Körper und Geist untrennbar.«
6 Thompson 2007, IX. Zur Spannbreite dieser Forschungsprogrammatik
siehe z.B. Barsalou 2008, Gallagher 2012, Ziemke et al. (Hg.) 2007.
7 Rickheit/Strohner 1993, 16.
8 Carr 2010, 298f.
9 Wiehl 1996, 122; danach ist Whiteheads Philosophie eines
»der
am konsequentesten durchgearbeiteten Systeme des Naturalismus in der
Philosophie der Moderne überhaupt«. – Die
Whitehead-Arbeiten liegen sämtlich in deutscher
Übersetzung
vor und als solche den Zitaten in dieser Studie zugrunde: The concept
of nature, 1919 – dt.: Der Begriff der Natur (BN);
Science
and the modern world, 1925 – dt.: Wissenschaft und moderne
Welt
(WW); Symbolism, its meaning and effect, 1927 – dt.:
Kulturelle
Symbolisierung (Sy); Process and reality, 1929 – dt.:
Prozeß und Realität (PR); The function of reason,
1929
– dt.: Die Funktion der Vernunft (FV); Adventures of ideas,
1933
– dt.: Abenteuer der Ideen (AI); Modes of thought, 1938
–
dt.: Denkweisen (DW). – Zu historischen Abgrenzungen wie
›Spätwerk‹ bzw. Kontinuitäten
und Entwicklungen
im philosophischen Denken Whiteheads siehe Hampe 1990, 173, Fn. 7;
1991a, 11. – Vorüberlegungen zu dieser Studie fasst
zusammen
Gerdes 2007.
10 Siehe etwa Zimmer 2009, 216f., in Bezug auf Whiteheads
»Prozeß und Realität«:
»[...]
unumstritttenes Pionierwerk von imposantem Umfang und schwer
überschaubarer Komplexität, das völlig neue
Wege
eröffnet, aber gleichzeitig dem Leser große
Anstrengung
abverlangt [...]. Prozess und Realität gehört nicht
zu den
meist gelesenen philosophischen Werken des 20. Jahrhunderts, und der
ungeheure theoretische Reichtum des Buches ist bis heute erst in
Ansätzen erfasst worden.«
11 Ein Anliegen der Studie ist insofern, was die philosophische
Tradition auch das hermeneutische Anliegen des Verstehens und der
Verständigung nennt, des »Dolmetschens,
Erklärens« (Gadamer 1974, 1061); zu diesen
hermeneutischen
Anliegen siehe auch Wiehl 1996, 145.
12 Siehe Hampe 1991a, 11, dort mit Verweis auf Reiner Wiehl (1959,
106): »Nun gilt aber, daß Prozeß und
Realität,
wie Wiehl schrieb, beinahe im Moment seines Erscheinens als
großes philosophisches Werk anerkannt, aber [...]
›mumifiziert‹ und damit für jede
Gegenwart
›unschädlich‹ gemacht wurde.«
13 Exemplarisch siehe dazu: Hampe 1997 und 1991a, Holl 1992, Lachmann
2000a, Lotter 1996, 20f.
14 Ein Wandel, der einmal, in anderem Kontext und unter anderem
Blickwinkel, für die postmoderne Philosophie formuliert worden
ist
als das »Abrücken vom Primat der Logik, das
Abrücken
von der Monokultur des Sinns und das Abrücken von der
Prävalenz des Sehens, diese vierfache Kritik an
Anthropozentrismus, Logozentrismus, Monosemie und Visualprimat
[...]« (Welsch 1998, 82). – Zu anders gelagerten,
etwa
kultur oder sozialwissenschaftlichen Ausformungen und Aspekten dieses
Wandels wie z.B. dem sogenannten ›spatial turn‹
siehe
etwa Bachmann-Medick 2006, auch Latka 2003.
15 Helson 1951, 369.
16 Mittelstraß 1995, 550; zur allgemeinen Lesart des
Rekonstruktionsbegriffs als ›gedankliches Nachbilden unter
systematischem Gesichtspunkt‹ siehe Bausch 1999, 504; zum
Rekonstruktionsbegriff siehe auch Carrier 1986.
17 Wissenschaftshistorische Vorarbeiten in diese Richtung: Gerdes 2008.
18 Hampe 1998, 122; zu den Schwierigkeiten, Whiteheads philosophisches
Denken zu rekonstruieren, siehe z.B. Hampe 1990, 11ff.
19 Carrier/Mittelstraß 1989, 3.
20 Wildgen 2000, 83.
21 Cassirer 1927, 295. |